Der Kantforschung stehen in der Tat nur ganz wenige Bücher zur Verfügung, die die Namen von Aristoteles „und“ Kant auf dem Titelblatt führen. Man denke vor allem an Albert Görlands Aristoteles und Kant bezüglich der Idee der theoretischen Erkenntnis (Gießen 1909), wobei auf die glückliche Komplementarität von Ferrarins Buch mit dem von Görland hinzuweisen ist (an sich auch ein Zeichen der Forschungsdürre auf diesem Gebiet), insofern sich ersteres auf Themen der praktischen Philosophie (Weisheit, Phantasie und praktische Urteile) und letzteres auf ein Problem der theoretischen Philosophie (das Problem der intellektuellen Erkenntnis) beschränken. Allerdings tauchen auch immer wieder Aufsätze (allerdings keine Bücher!) auf, die Kants Verhältnis zum Aristotelismus ansprechen. Man denke insbesondere auf Giuseppe Michelis „La terminologia aristotelico-scolastica e il lessico kantiano“ (in: La presenza dell’aristotelismo padovano nella filosofia della prima modernità. Atti del Colloquio internazionale in memoria di Charles B. Schmitt [Padova, 4-6 settembre 2000], hrsg. v. Gregorio Piaia, Rom u. Padua 2002, S. 445-470). Natürlich ist Ferrarin, der in Pisa den Lehrstuhl für Moralphilosophie innehat, zugleich aber als Altphilologe und Philosophiehistoriker außerordentlich gut versiert ist, nicht ohne Vorbereitung in diesem Unterfangen gegangen. Eine bewährte Vergleichsmethode verwendete er schon in seiner zelebrierten und unter vielen Hinsichten definitiven Monographie zu Hegel and Aristotle (Cambridge u. New York 2001). Darüberhinaus hat er problemgeschichtlich an die Bestimmung der Rolle der Einbildungskraft bei Hobbes (Artificio, desiderio, conoscenza di sé. Hobbes e i fondamenti antropologici della politica, Pisa 2001; „Hobbes and Imagination“, The Graduate Faculty Philosophy Journal 24 [2003], S. 5-27) und bei Kant gearbeitet (er hat ein Buch auf Englisch in Vorbereitung mit dem Titel, Kant and Imagination). Nicht von ungefähr befassen sich die beiden letzten Kapitel des vorliegenden Bandes mit einer eingehenden Rekonstruktion der systematischen Rolle der Einbildungskraft bei Aristoteles und bei Kant. Ferrarin beginnt mit einer kritischen Übersicht mancher Ansätze über die Aufstellung praktischer Urteile und die Rolle der Einbildungskraft aus dem vergangenen Jahrhundert. Er behandelt die Interpretation der phronesis bei Hannah Arendt (S. 49), Martin Heidegger (S. 52) — und zwar mit bezug auf die kritischen Berichtigungen von Stanley Rosen (S. 52) und Enrico Berti (S. 57) — sowie natürlich Hans-Georg Gadamer (S. 57). Im zweiten Kapitel widmet sich Ferrarin einigen in jüngster Zeit erfolgten Versuchen, Aristoteles und Kant zu vergleichen. Ferrarin ist betonterweise kein Konkordist und hält auf die Unversöhnbarkeit zwischen den Grundvoraussetzungen von Aristoteles und Kant fest. Während sich in Hegels Werk eine Menge direkter Bezüge auf Aristoteles finden ließen, die eine Reihe von eigenständigen Eindrucken und Interpretationen zusammenstellen, dies sei bei Kant auf keiner Weise möglich. „Kant hat Aristoteles nicht gekannt. Man kann zwar nicht feststellen, ob er ihn je las, oder ob er sich für seine vage und oberflächige Kenntnis von Aristoteles auf die in den Handbüchern seiner Zeit enthaltenen Materialien, besonders auf die von Brucker [Historia critica philosophiae] beschränkte, es ist aber eine kaum widerlegbare Tatsache, daß er in seinen Werken weder Kenntnis vom Werk des Aristoteles noch vor allem Interesse zeigt, es zu kennen. Man verfügt zwar über keine negativen Beweisen, man kann aber auf bedeutenden Indizien von Kants Gleichgültigkeit gegenüber Aristoteles hinweisen“ (S. 64). Unter den zahlreichen von Ferrarin angeführten Beispiele für Kants Gleichgültigkeit gehöhrt seine Verwendung in der Metaphysik der Sitten (Ak.-Ausg., 6, S. 404, 432) der von Grotius im Umgang gestellten und von Garve wiederaufgenommenen Mißdeutung des aristotelischen Tugendbegriffs in der Formel „der Tugend besteht in der richtigen Mitte“, die eine Reduktion der aristotelischen Weisheit auf prudentiellen Normen impliziert. Normen nämlich, die mit der Moral kaum etwas zu tun haben, und die man eher auf die Haushaltsführung anwenden soll (S. 65). Kants Unwissen der klassischen Philosophie — betont Ferrarin — liefere keinen Grund für Tadel bzw. Genugtuung. Die Antike sei einfach „kein Thema für seine Philosophie gewesen, die noch keine Verbindung zwischen Wahrheit und Geschichte als Postulat annimmt“ (S. 68). Die Philosophiegeschichte, setzt Ferrarin fort, sei zu Kants Lebzeiten kaum in Kurs gewesen. Damals hätte kein Philosoph, nicht einmal Leibniz, auf die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit den antiken Quellen gedacht. Vor allen Dingen hätte Kant kein Bedürfnis gehabt, seine eigene Philosophie von der Vergangenheit legitimiert zu sehen — wie es dagegen bei Hegel der Fall gewesen sei (ebd.). Ferrarin macht sich von daher Klaus Düsings Feststellung eigen, lediglich Cicero, Seneca und Diogenes Laertios seien die Autoren, aus denen Kant die „Sekten“ hervorschöpft, die die eudaimonistische Ethik vertreten (ebd.; vgl. Düsings Aufsatz, „Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie“, in: Kant-Studien 62 [1971], S. 5-42). Es stimmt zwar zu, daß die Philosophiegeschichte in Königberg nicht unter den philosophischen Lektionen geführt wurde, sie wurde es aber wohl unter den historischen (und zwar im letzten Semester eines Artistenstudiums — vgl. Vorlesungsverziechnisse der Universität Königsberg 1720-1804, Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, S. XXXIV). Darüberhinaus waren zu Kants Lebzeiten philosophiehistorische Forschungen alles andere als brach — die inzwischen zur Vollendung gebrachte, von Giovanni Santinello und für die letzten Bände von Gregorio Piaia geleitete Storia delle storie generali della filosofia (5 Bde., Padua, 1982-2004) beweist dies. Giuseppe Micheli hat ferner bewiesen, daß Kant die Philosophiegeschichte doch eingehend problematisiert hatte (vgl. sein Kant storico della filosofia, Padua, Antenore, 1980). Schließlich kommt es in der Philosophie- bzw. Ideengeschichte nicht so sehr auf die Feststellung an, ob direkte Zitate vorhanden sind, sondern, ob ein Philosoph ein Segment einer Problem- bzw. Traditionsgeschichte für sich beansprucht habe. Man kann beispielsweise kaum bestreiten, daß die Habituslehre eine genuine aristotelische Lehre wäre, die Dank des Renaissance-Aristotelismus eine gewaltige Beachtung findet und von Kant weitergebracht wird (zu Kants Rolle in der Problemgeschichte der Habituslehre vgl. meinen „Kant on the Five Intellectual Virtues“, in: The Impact of Aristotelianism on Modern Philosophy, hrsg. v. Riccardo Pozzo, Washington, D.C. 2004, S. 173-192). Dasselbe kann man auch in bezug auf die von G. Felicitas Munzel vorgelegten Ergebnisse gelten lassen, die auf eine Verbindung zwischen Kant und Aristoteles in der Charakterlehre hingewiesen hat (vgl. Kant’s Conception of Moral Character. The Critical Link of Morality, Anthropology, and Reflective Judgement, Chicago 1999, S. 161-163). Allerdings ist Ferrarins Aristoteles „und“ Kant erklärterweise kein philosophiehistorisches Buch; es ist also sein gutes Recht, von dem Kontext der unmittelbarer Rezeption einer Lehre zu abstrahieren. Es handelt sich ein Buch, das in keiner Bibliothek fehlen dürfte, das uns vielmehr große Schritte in der Richtung einer immanenten Vergleichung von Kants systematischen Prämissen mit denen von Aristoteles machen läßt.
Alfredo Ferrarin, Saggezza, immaginazione e giudizio pratico (Pisa: ETS, 2004)
POZZO, Riccardo
2009-01-01
Abstract
Der Kantforschung stehen in der Tat nur ganz wenige Bücher zur Verfügung, die die Namen von Aristoteles „und“ Kant auf dem Titelblatt führen. Man denke vor allem an Albert Görlands Aristoteles und Kant bezüglich der Idee der theoretischen Erkenntnis (Gießen 1909), wobei auf die glückliche Komplementarität von Ferrarins Buch mit dem von Görland hinzuweisen ist (an sich auch ein Zeichen der Forschungsdürre auf diesem Gebiet), insofern sich ersteres auf Themen der praktischen Philosophie (Weisheit, Phantasie und praktische Urteile) und letzteres auf ein Problem der theoretischen Philosophie (das Problem der intellektuellen Erkenntnis) beschränken. Allerdings tauchen auch immer wieder Aufsätze (allerdings keine Bücher!) auf, die Kants Verhältnis zum Aristotelismus ansprechen. Man denke insbesondere auf Giuseppe Michelis „La terminologia aristotelico-scolastica e il lessico kantiano“ (in: La presenza dell’aristotelismo padovano nella filosofia della prima modernità. Atti del Colloquio internazionale in memoria di Charles B. Schmitt [Padova, 4-6 settembre 2000], hrsg. v. Gregorio Piaia, Rom u. Padua 2002, S. 445-470). Natürlich ist Ferrarin, der in Pisa den Lehrstuhl für Moralphilosophie innehat, zugleich aber als Altphilologe und Philosophiehistoriker außerordentlich gut versiert ist, nicht ohne Vorbereitung in diesem Unterfangen gegangen. Eine bewährte Vergleichsmethode verwendete er schon in seiner zelebrierten und unter vielen Hinsichten definitiven Monographie zu Hegel and Aristotle (Cambridge u. New York 2001). Darüberhinaus hat er problemgeschichtlich an die Bestimmung der Rolle der Einbildungskraft bei Hobbes (Artificio, desiderio, conoscenza di sé. Hobbes e i fondamenti antropologici della politica, Pisa 2001; „Hobbes and Imagination“, The Graduate Faculty Philosophy Journal 24 [2003], S. 5-27) und bei Kant gearbeitet (er hat ein Buch auf Englisch in Vorbereitung mit dem Titel, Kant and Imagination). Nicht von ungefähr befassen sich die beiden letzten Kapitel des vorliegenden Bandes mit einer eingehenden Rekonstruktion der systematischen Rolle der Einbildungskraft bei Aristoteles und bei Kant. Ferrarin beginnt mit einer kritischen Übersicht mancher Ansätze über die Aufstellung praktischer Urteile und die Rolle der Einbildungskraft aus dem vergangenen Jahrhundert. Er behandelt die Interpretation der phronesis bei Hannah Arendt (S. 49), Martin Heidegger (S. 52) — und zwar mit bezug auf die kritischen Berichtigungen von Stanley Rosen (S. 52) und Enrico Berti (S. 57) — sowie natürlich Hans-Georg Gadamer (S. 57). Im zweiten Kapitel widmet sich Ferrarin einigen in jüngster Zeit erfolgten Versuchen, Aristoteles und Kant zu vergleichen. Ferrarin ist betonterweise kein Konkordist und hält auf die Unversöhnbarkeit zwischen den Grundvoraussetzungen von Aristoteles und Kant fest. Während sich in Hegels Werk eine Menge direkter Bezüge auf Aristoteles finden ließen, die eine Reihe von eigenständigen Eindrucken und Interpretationen zusammenstellen, dies sei bei Kant auf keiner Weise möglich. „Kant hat Aristoteles nicht gekannt. Man kann zwar nicht feststellen, ob er ihn je las, oder ob er sich für seine vage und oberflächige Kenntnis von Aristoteles auf die in den Handbüchern seiner Zeit enthaltenen Materialien, besonders auf die von Brucker [Historia critica philosophiae] beschränkte, es ist aber eine kaum widerlegbare Tatsache, daß er in seinen Werken weder Kenntnis vom Werk des Aristoteles noch vor allem Interesse zeigt, es zu kennen. Man verfügt zwar über keine negativen Beweisen, man kann aber auf bedeutenden Indizien von Kants Gleichgültigkeit gegenüber Aristoteles hinweisen“ (S. 64). Unter den zahlreichen von Ferrarin angeführten Beispiele für Kants Gleichgültigkeit gehöhrt seine Verwendung in der Metaphysik der Sitten (Ak.-Ausg., 6, S. 404, 432) der von Grotius im Umgang gestellten und von Garve wiederaufgenommenen Mißdeutung des aristotelischen Tugendbegriffs in der Formel „der Tugend besteht in der richtigen Mitte“, die eine Reduktion der aristotelischen Weisheit auf prudentiellen Normen impliziert. Normen nämlich, die mit der Moral kaum etwas zu tun haben, und die man eher auf die Haushaltsführung anwenden soll (S. 65). Kants Unwissen der klassischen Philosophie — betont Ferrarin — liefere keinen Grund für Tadel bzw. Genugtuung. Die Antike sei einfach „kein Thema für seine Philosophie gewesen, die noch keine Verbindung zwischen Wahrheit und Geschichte als Postulat annimmt“ (S. 68). Die Philosophiegeschichte, setzt Ferrarin fort, sei zu Kants Lebzeiten kaum in Kurs gewesen. Damals hätte kein Philosoph, nicht einmal Leibniz, auf die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit den antiken Quellen gedacht. Vor allen Dingen hätte Kant kein Bedürfnis gehabt, seine eigene Philosophie von der Vergangenheit legitimiert zu sehen — wie es dagegen bei Hegel der Fall gewesen sei (ebd.). Ferrarin macht sich von daher Klaus Düsings Feststellung eigen, lediglich Cicero, Seneca und Diogenes Laertios seien die Autoren, aus denen Kant die „Sekten“ hervorschöpft, die die eudaimonistische Ethik vertreten (ebd.; vgl. Düsings Aufsatz, „Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie“, in: Kant-Studien 62 [1971], S. 5-42). Es stimmt zwar zu, daß die Philosophiegeschichte in Königberg nicht unter den philosophischen Lektionen geführt wurde, sie wurde es aber wohl unter den historischen (und zwar im letzten Semester eines Artistenstudiums — vgl. Vorlesungsverziechnisse der Universität Königsberg 1720-1804, Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, S. XXXIV). Darüberhinaus waren zu Kants Lebzeiten philosophiehistorische Forschungen alles andere als brach — die inzwischen zur Vollendung gebrachte, von Giovanni Santinello und für die letzten Bände von Gregorio Piaia geleitete Storia delle storie generali della filosofia (5 Bde., Padua, 1982-2004) beweist dies. Giuseppe Micheli hat ferner bewiesen, daß Kant die Philosophiegeschichte doch eingehend problematisiert hatte (vgl. sein Kant storico della filosofia, Padua, Antenore, 1980). Schließlich kommt es in der Philosophie- bzw. Ideengeschichte nicht so sehr auf die Feststellung an, ob direkte Zitate vorhanden sind, sondern, ob ein Philosoph ein Segment einer Problem- bzw. Traditionsgeschichte für sich beansprucht habe. Man kann beispielsweise kaum bestreiten, daß die Habituslehre eine genuine aristotelische Lehre wäre, die Dank des Renaissance-Aristotelismus eine gewaltige Beachtung findet und von Kant weitergebracht wird (zu Kants Rolle in der Problemgeschichte der Habituslehre vgl. meinen „Kant on the Five Intellectual Virtues“, in: The Impact of Aristotelianism on Modern Philosophy, hrsg. v. Riccardo Pozzo, Washington, D.C. 2004, S. 173-192). Dasselbe kann man auch in bezug auf die von G. Felicitas Munzel vorgelegten Ergebnisse gelten lassen, die auf eine Verbindung zwischen Kant und Aristoteles in der Charakterlehre hingewiesen hat (vgl. Kant’s Conception of Moral Character. The Critical Link of Morality, Anthropology, and Reflective Judgement, Chicago 1999, S. 161-163). Allerdings ist Ferrarins Aristoteles „und“ Kant erklärterweise kein philosophiehistorisches Buch; es ist also sein gutes Recht, von dem Kontext der unmittelbarer Rezeption einer Lehre zu abstrahieren. Es handelt sich ein Buch, das in keiner Bibliothek fehlen dürfte, das uns vielmehr große Schritte in der Richtung einer immanenten Vergleichung von Kants systematischen Prämissen mit denen von Aristoteles machen läßt.I documenti in IRIS sono protetti da copyright e tutti i diritti sono riservati, salvo diversa indicazione.