Noch ein italienisches Buch über Kants Begriff der Architektonik, diesmal aber mit einem primären Bezug auf die Kritik der Urteilskraft, genauer gesagt auf die Kritik der ästhetischen Urteilskraft. Im ersten Kapitel (S. 23-69) geht es um Kants Auffassung der Philosophiegeschichte, die Hohenegger einem Vorschlag Yirmiyahu Yovels zufolge (Kant’s Philosophy of History, Princeton, 1989, S.224-251) im Hinblick auf ihre Architektonik interpretiert. In ihrem weltbürgerlichen Sinn sei die Philosophie im Grunde Weisheit und scheine sich auf die Kenntnis des Moralgesetzes und somit auf eine moralische Teleologie zu beschränken. In ihrem scholastischen Sinn sei sie aber Wissenschaft und müsse „aus dem Gesichtspunkte eines gewissen allgemeinen Interesses ausgedacht werden“ (KrV A834/B862), wozu sie eine teleologische Ausrichtung brauche, die ihr eine systematische Einheit verleihe (S. 31). Diese zwei Philosophieauffassungen seien entgegensetzt und komplementär. Die die Philosophie im scholastischen Sinn richtende natürliche Teleologie könne weder eine unwillkürliche Einheit im Geltungsbereich des höheren Prinzip der moralischen Teleleogie der Weisheit erlangen, nämlich des höchsten Guten, noch dürfe sie einen wenn auch mittelbaren Bezug auf das Prinzip der moralischen Teleologie entbehren ohne zu einer Wissenschaft zu werden, deren Zweck genauso willkürlich wie der aller anderen Wissenschaften sei. Auf der anderen Seite brauche die Weisheit die Wissenschaft notwendigerweise. Hohenegger suggeriert, er gäbe also eine „teleologische Antinomie der Philosophie“, deren Lösung sich nicht im höchsten Gut finden ließe, wie es bei der Antinomie der praktischen Vernunft der Fall sei, sondern eben nur im Hinblick auf die Architektonik, denn nur die Architektonik kann die Teleologie in ihren mannigfaltigen Aspekten thematisieren und jene Prinzipienhierarchie zum Ausdruck bringen , die die Rolle der Philosophie rechtfertigen könne. Das recht weitläufige zweite Kapitel (S. 71-158) befaßt sich mit dem Begriff der Architektonik als Kunst der Systeme. Als teleologia humanae rationis (worauf Hohenegger S. 152-158 zurückkommt) gehöre die Philosophie zur Jugend der Vernunft, denn als öffentliches und historisch bestimmtes Wissen gelte sie gemäß einer erst subjektiven Allgemeinheit, nämlich jener Allgemeinheit, die sich auf das rationelle Vermögen der Menschheit basiert und vor allem auf die moralische Teleologie zurückführen läßt. Darüber hinaus verfüge ein philosophisches System auch über eine innere Teleologie, die aufgrund des Kenntnisdranges konstituiert werde und von daher auf eine auch objektive Allgemeinheit Anspruch mache, nämlich auf ein Objekt, das sich rationell beurteilen ließe, vor allem mit Blick auf die naturelle Teleologie. Dieser letzte Bezug mache es möglich, die Philosophie als eine Wissenschaft zu sehen. (S. 71). „Der szientifische Vernunftbegriff — schreibt Kant — enthält also den Zweck und die Form des Ganzen, das mit demselben kongruiert“ (KrV A832/B860). Der Zweck erfülle also einer systematischen Funktion (S. 72). Kant verlange dafür ein Schema: „Die Idee bedarf zur Ausführung ein Schema, d.i. eine a priori aus dem Prinzip des Zwecks bestimmte wesentliche Mannigfaltigkeit und Ordnung der Teile“ (KrV A833/B861). Es sei schon richtig, daß Kant die Möglichkeit einer durch ein architektonisches Wissen koordinierten Ordnung der Mannigfaltigkeit im Ausgang einer die Einheit des Zwecks enthaltenden Idee ausgedacht habe, man müsse aber dabei nicht vergessen, daß die Einheit des Zwecks im Endeffekt eine ästhetische Perfektion der Logik sei. Worauf Hohenegger meint, man müsse versuchen, die Architektonik aus der Ästhetik zu leiten. Schon bei Baumgarten sei übrigens das architektonische Prinzip aus ästhetischen Prinzipien geleitet worden und daraufhin aus dem Prinzip der Zweckmäßigkeit der Urteilskraft (S. 79, auch S. 159f.). Dies ist ein sehr interessanter Gesichtspunkt, der eine dramatische Neubewertung von Kants ästhetischem Denken und vor allem seiner Kritik des Geschmacks unumgänglich macht. Das dritte und letzte Kapitel (S. 159-224) bringt Hoheneggers Argument dadurch zum Schluß, als es ein neues architektonisches Schema für die Interpretation der Kritik der ästhetischen Urteilskraft vorschlägt. Insbesondere wird die Frage erwogen, ob bei Kant eine teleologisch fundierte architektonische Logik im Rahmen der Analytik des Schönen aufzuspuren sei (S. 159). Es sei nämlich die Dimension des ästhetischen und subjektiven Schematismus, die die Vorstellbarkeit der Erkenntnis ermöglicht, obwohl die Zweckmäßigkeit an sich natürlich kein Erkenntnisstück beinhalte, sondern nur „uns eine Technik der Natur“ entdeckt (KU B77). Die wahre Deduktion des gleichsam — so Hohenegger — wissenschaftstheoretischen Prinzips der Urteilskraft bestünde in der Deduktion der Geschmacksurteile. Der Bezug auf die Vorstellbarkeit des intuitiven Verstandes (KU B347) diene also vor allem dazu zu klären, daß wenn die Urteilskraft wissenschaftstheoretisch gebraucht werde, hätte ihr Prinzip erst einen regulativen Gebrauch (S. 193). Sowohl im Falle des wissenschaftstheoretischen Prinzips der Urteilskraft als auch im Falle des ästhetischen Prinzips, dürfe die Zweckmäßigkeit kein Begriff sein. Sie könne nur in Form eines Gefühles erfaßt werden, also als eines „Gemützustandes“, d. h. entweder als Bewußtsein des Bedürfnis nach einer Regel oder als Bewußtsein des „freien Spiels“ der Erkenntniskräfte (KU B28). Nicht von ungefähr behandelt Hohenegger in den letzten Abschnitten seines unter allen Hinsichten eindrucksvollen Buches die Konsequenzen, die sein Ansatz mit Bezug auf den Unterschied zwischen bestimmten und unbestimmten Urteile findet, zum Beispiel mit Bezug auf das Realitätsurteil (S. 209) und die Realität von ästhetischen Formen und Ideen (S. 215). Hohenegger lädt zu einer Revision alterhergebrachter Fragestellungen über Kants Ästhetik, beispielsweise der Frage nach ihrem vermeintlichen Formalismus ein. Wichtig ist in dieser Hinsicht die von Hohenegger gestellte Frage der Apriorität von ästhetischen Urteilen, die ganz neue Einsichten über Kants wissenschaftstheoretischen Auffassungen mit sich bringt. Denn in der bereits zitierten Formel aus dem Anfang des Architektonikabschnittes „aus dem Gesichtspunkte eines gewissen allgemeinen Interesses ausgedacht“ zu werden“ (KrV A834/B862), soll man auf das ‚gewisse’ besondere Achtung schenken, womit eine wissenschaftstheoretische Ausrichtung, eine Teilung der Welt, zum Ausdruck kommt, und die — wie Hohenegger zu gutem Recht suggeriert — aufgrund der Beschaffenheit des Lebendingen zu einer teleologische Ausrichtung wird.

Hansmichael Hohenegger, Kant filosofo dell’architettonica (Roma: Quodlibet, 2004)

POZZO, Riccardo
2009-01-01

Abstract

Noch ein italienisches Buch über Kants Begriff der Architektonik, diesmal aber mit einem primären Bezug auf die Kritik der Urteilskraft, genauer gesagt auf die Kritik der ästhetischen Urteilskraft. Im ersten Kapitel (S. 23-69) geht es um Kants Auffassung der Philosophiegeschichte, die Hohenegger einem Vorschlag Yirmiyahu Yovels zufolge (Kant’s Philosophy of History, Princeton, 1989, S.224-251) im Hinblick auf ihre Architektonik interpretiert. In ihrem weltbürgerlichen Sinn sei die Philosophie im Grunde Weisheit und scheine sich auf die Kenntnis des Moralgesetzes und somit auf eine moralische Teleologie zu beschränken. In ihrem scholastischen Sinn sei sie aber Wissenschaft und müsse „aus dem Gesichtspunkte eines gewissen allgemeinen Interesses ausgedacht werden“ (KrV A834/B862), wozu sie eine teleologische Ausrichtung brauche, die ihr eine systematische Einheit verleihe (S. 31). Diese zwei Philosophieauffassungen seien entgegensetzt und komplementär. Die die Philosophie im scholastischen Sinn richtende natürliche Teleologie könne weder eine unwillkürliche Einheit im Geltungsbereich des höheren Prinzip der moralischen Teleleogie der Weisheit erlangen, nämlich des höchsten Guten, noch dürfe sie einen wenn auch mittelbaren Bezug auf das Prinzip der moralischen Teleologie entbehren ohne zu einer Wissenschaft zu werden, deren Zweck genauso willkürlich wie der aller anderen Wissenschaften sei. Auf der anderen Seite brauche die Weisheit die Wissenschaft notwendigerweise. Hohenegger suggeriert, er gäbe also eine „teleologische Antinomie der Philosophie“, deren Lösung sich nicht im höchsten Gut finden ließe, wie es bei der Antinomie der praktischen Vernunft der Fall sei, sondern eben nur im Hinblick auf die Architektonik, denn nur die Architektonik kann die Teleologie in ihren mannigfaltigen Aspekten thematisieren und jene Prinzipienhierarchie zum Ausdruck bringen , die die Rolle der Philosophie rechtfertigen könne. Das recht weitläufige zweite Kapitel (S. 71-158) befaßt sich mit dem Begriff der Architektonik als Kunst der Systeme. Als teleologia humanae rationis (worauf Hohenegger S. 152-158 zurückkommt) gehöre die Philosophie zur Jugend der Vernunft, denn als öffentliches und historisch bestimmtes Wissen gelte sie gemäß einer erst subjektiven Allgemeinheit, nämlich jener Allgemeinheit, die sich auf das rationelle Vermögen der Menschheit basiert und vor allem auf die moralische Teleologie zurückführen läßt. Darüber hinaus verfüge ein philosophisches System auch über eine innere Teleologie, die aufgrund des Kenntnisdranges konstituiert werde und von daher auf eine auch objektive Allgemeinheit Anspruch mache, nämlich auf ein Objekt, das sich rationell beurteilen ließe, vor allem mit Blick auf die naturelle Teleologie. Dieser letzte Bezug mache es möglich, die Philosophie als eine Wissenschaft zu sehen. (S. 71). „Der szientifische Vernunftbegriff — schreibt Kant — enthält also den Zweck und die Form des Ganzen, das mit demselben kongruiert“ (KrV A832/B860). Der Zweck erfülle also einer systematischen Funktion (S. 72). Kant verlange dafür ein Schema: „Die Idee bedarf zur Ausführung ein Schema, d.i. eine a priori aus dem Prinzip des Zwecks bestimmte wesentliche Mannigfaltigkeit und Ordnung der Teile“ (KrV A833/B861). Es sei schon richtig, daß Kant die Möglichkeit einer durch ein architektonisches Wissen koordinierten Ordnung der Mannigfaltigkeit im Ausgang einer die Einheit des Zwecks enthaltenden Idee ausgedacht habe, man müsse aber dabei nicht vergessen, daß die Einheit des Zwecks im Endeffekt eine ästhetische Perfektion der Logik sei. Worauf Hohenegger meint, man müsse versuchen, die Architektonik aus der Ästhetik zu leiten. Schon bei Baumgarten sei übrigens das architektonische Prinzip aus ästhetischen Prinzipien geleitet worden und daraufhin aus dem Prinzip der Zweckmäßigkeit der Urteilskraft (S. 79, auch S. 159f.). Dies ist ein sehr interessanter Gesichtspunkt, der eine dramatische Neubewertung von Kants ästhetischem Denken und vor allem seiner Kritik des Geschmacks unumgänglich macht. Das dritte und letzte Kapitel (S. 159-224) bringt Hoheneggers Argument dadurch zum Schluß, als es ein neues architektonisches Schema für die Interpretation der Kritik der ästhetischen Urteilskraft vorschlägt. Insbesondere wird die Frage erwogen, ob bei Kant eine teleologisch fundierte architektonische Logik im Rahmen der Analytik des Schönen aufzuspuren sei (S. 159). Es sei nämlich die Dimension des ästhetischen und subjektiven Schematismus, die die Vorstellbarkeit der Erkenntnis ermöglicht, obwohl die Zweckmäßigkeit an sich natürlich kein Erkenntnisstück beinhalte, sondern nur „uns eine Technik der Natur“ entdeckt (KU B77). Die wahre Deduktion des gleichsam — so Hohenegger — wissenschaftstheoretischen Prinzips der Urteilskraft bestünde in der Deduktion der Geschmacksurteile. Der Bezug auf die Vorstellbarkeit des intuitiven Verstandes (KU B347) diene also vor allem dazu zu klären, daß wenn die Urteilskraft wissenschaftstheoretisch gebraucht werde, hätte ihr Prinzip erst einen regulativen Gebrauch (S. 193). Sowohl im Falle des wissenschaftstheoretischen Prinzips der Urteilskraft als auch im Falle des ästhetischen Prinzips, dürfe die Zweckmäßigkeit kein Begriff sein. Sie könne nur in Form eines Gefühles erfaßt werden, also als eines „Gemützustandes“, d. h. entweder als Bewußtsein des Bedürfnis nach einer Regel oder als Bewußtsein des „freien Spiels“ der Erkenntniskräfte (KU B28). Nicht von ungefähr behandelt Hohenegger in den letzten Abschnitten seines unter allen Hinsichten eindrucksvollen Buches die Konsequenzen, die sein Ansatz mit Bezug auf den Unterschied zwischen bestimmten und unbestimmten Urteile findet, zum Beispiel mit Bezug auf das Realitätsurteil (S. 209) und die Realität von ästhetischen Formen und Ideen (S. 215). Hohenegger lädt zu einer Revision alterhergebrachter Fragestellungen über Kants Ästhetik, beispielsweise der Frage nach ihrem vermeintlichen Formalismus ein. Wichtig ist in dieser Hinsicht die von Hohenegger gestellte Frage der Apriorität von ästhetischen Urteilen, die ganz neue Einsichten über Kants wissenschaftstheoretischen Auffassungen mit sich bringt. Denn in der bereits zitierten Formel aus dem Anfang des Architektonikabschnittes „aus dem Gesichtspunkte eines gewissen allgemeinen Interesses ausgedacht“ zu werden“ (KrV A834/B862), soll man auf das ‚gewisse’ besondere Achtung schenken, womit eine wissenschaftstheoretische Ausrichtung, eine Teilung der Welt, zum Ausdruck kommt, und die — wie Hohenegger zu gutem Recht suggeriert — aufgrund der Beschaffenheit des Lebendingen zu einer teleologische Ausrichtung wird.
2009
9788874620746
Kant; architettonica; sistema
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