Im Christentum gibt es eine Richtung, die die Agape und den Eros als einander Entgegengesetzte denkt – ein Beispiel dafür ist gerade Nygren –, eine Richtung, die die Grundstimmung des Menschen der Welt gegenüber als Angst beschreibt. Diese Bewegung hat historisch eine ihrer Hauptquellen bei Marcion. Das wesentliche Problem für Marcion ist, den Prozeß, der zum Ende der Welt führt, zu beschleunigen, und zwar durch die Hemmung jeder Lebenskraft. Nur so könne der Mensch die Erlösung erreichen. Dieser Aspekt von Marcions Lehre ist von Taubes wirkungsvoll zusammengefasst worden: „Der Gedanke zu Ende gedacht heisst ja: die Welt auszuhungern, indem ihr der Same entzogen wird. Es ist eine das Weltende praktizierende oder exekutierende Kirche“. Nach Taubes bleibe dieses nihilistische Ziel im Christentum anwesend, zumal der gnostische Zug in Paulus selbst bereits angelegt worden sei. Zwar habe Marcion die Theologie des Paulus einseitig gelesen, er habe ihn nicht verstanden, er habe ihn aber auch nicht ganz mißverstanden. Eigentlich sei Marcion nur formell von den Kirchenvätern widerlegt worden und in Wahrheit sei sein Einfluss innerhalb des Christentums relevant geblieben. Das mag alles stimmen, aber es fehlt etwas in der Überlegung von Taubes: Franziskus von Assisi. Vermutlich sind die Seiten, die Scheler Franziskus gewidmet hat, gerade in dem Sinne zu lesen, die nihilistische Richtung des Christentums zu überwinden. In Wesen und Formen der Sympatie stellt Scheler eine latente Gefahr in der Theologie des Paulus fest. Die Gefahr, der die Theologie des Paulus ausgesetzt ist, besteht in einer gänzlichen Ent-Göttlichung der Natur, in der Verneinung jedweder Heiligkeit der Natur. Es ist Franziskus, der Scheler zufolge das Christentum vor den potentiellen Gefahren eines einseitigen Konzeptes der akosmistischen Liebe in der Paulinischen Theologie gerettet hat: „Es war aber das Werk eines der größten Seelen- und Geistesbildner der europäischen Menschengeschichte, den denkwürdigen Versuch zu machen, die akosmistische [...] Liebesmystik des Allerbarmens, die das Christentum herbeigeführt hat und mit der Jesusliebe zur Einheit verschmolz, mit dem kosmovitalen Einsgefühl mit dem Sein und Leben der Natur zur Einheit und zur Synthese in einen Lebensprozess zu bringen. Dies war die sehr seltene Tat des Heiligen von Assisi.“ Woher aber stammt dieses neue panentheistische Moment der Einsfühlung? Schelers Antwort lautet: „Letzte Wurzel aller Einsfühlung ist und bleibt der Eros“. Für Scheler verkörpert Franziskus das höchste Beispiel der Durchdringung zwischen Agape und Eros, „akosmistischer Personliebe“ und „kosmisch-vitaler Einsfühlung“, „Verlebendigung des Geistes“ und „Vergeistigung des Lebens“. Während die Einsfühlung allein zum Pantheismus oder zum Naturalismus führt, neigt eine einseitige akosmistische Personliebe dazu, den Kosmos zu vergessen. Wichtig ist für Scheler, beide Bewegungen zu würdigen.

Eros und Agape bei Max Scheler

CUSINATO, Guido
2003-01-01

Abstract

Im Christentum gibt es eine Richtung, die die Agape und den Eros als einander Entgegengesetzte denkt – ein Beispiel dafür ist gerade Nygren –, eine Richtung, die die Grundstimmung des Menschen der Welt gegenüber als Angst beschreibt. Diese Bewegung hat historisch eine ihrer Hauptquellen bei Marcion. Das wesentliche Problem für Marcion ist, den Prozeß, der zum Ende der Welt führt, zu beschleunigen, und zwar durch die Hemmung jeder Lebenskraft. Nur so könne der Mensch die Erlösung erreichen. Dieser Aspekt von Marcions Lehre ist von Taubes wirkungsvoll zusammengefasst worden: „Der Gedanke zu Ende gedacht heisst ja: die Welt auszuhungern, indem ihr der Same entzogen wird. Es ist eine das Weltende praktizierende oder exekutierende Kirche“. Nach Taubes bleibe dieses nihilistische Ziel im Christentum anwesend, zumal der gnostische Zug in Paulus selbst bereits angelegt worden sei. Zwar habe Marcion die Theologie des Paulus einseitig gelesen, er habe ihn nicht verstanden, er habe ihn aber auch nicht ganz mißverstanden. Eigentlich sei Marcion nur formell von den Kirchenvätern widerlegt worden und in Wahrheit sei sein Einfluss innerhalb des Christentums relevant geblieben. Das mag alles stimmen, aber es fehlt etwas in der Überlegung von Taubes: Franziskus von Assisi. Vermutlich sind die Seiten, die Scheler Franziskus gewidmet hat, gerade in dem Sinne zu lesen, die nihilistische Richtung des Christentums zu überwinden. In Wesen und Formen der Sympatie stellt Scheler eine latente Gefahr in der Theologie des Paulus fest. Die Gefahr, der die Theologie des Paulus ausgesetzt ist, besteht in einer gänzlichen Ent-Göttlichung der Natur, in der Verneinung jedweder Heiligkeit der Natur. Es ist Franziskus, der Scheler zufolge das Christentum vor den potentiellen Gefahren eines einseitigen Konzeptes der akosmistischen Liebe in der Paulinischen Theologie gerettet hat: „Es war aber das Werk eines der größten Seelen- und Geistesbildner der europäischen Menschengeschichte, den denkwürdigen Versuch zu machen, die akosmistische [...] Liebesmystik des Allerbarmens, die das Christentum herbeigeführt hat und mit der Jesusliebe zur Einheit verschmolz, mit dem kosmovitalen Einsgefühl mit dem Sein und Leben der Natur zur Einheit und zur Synthese in einen Lebensprozess zu bringen. Dies war die sehr seltene Tat des Heiligen von Assisi.“ Woher aber stammt dieses neue panentheistische Moment der Einsfühlung? Schelers Antwort lautet: „Letzte Wurzel aller Einsfühlung ist und bleibt der Eros“. Für Scheler verkörpert Franziskus das höchste Beispiel der Durchdringung zwischen Agape und Eros, „akosmistischer Personliebe“ und „kosmisch-vitaler Einsfühlung“, „Verlebendigung des Geistes“ und „Vergeistigung des Lebens“. Während die Einsfühlung allein zum Pantheismus oder zum Naturalismus führt, neigt eine einseitige akosmistische Personliebe dazu, den Kosmos zu vergessen. Wichtig ist für Scheler, beide Bewegungen zu würdigen.
2003
9783826024863
Scheler; Eros; Agape; Plato; Marcion; Sublimierung; Freud
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