Im Zentrum dieser Arbeit steht die Frage nach der personalen Identität und der Orientierung in unserer flüchtigen postmodernen Zeit. Nach dem Expressivist Turn, wie Charles Taylor darlegt, hat es keinen Sinn mehr, in der Idee eines transzendenten Guten oder eines Wertes an sich einen Bezugspunkt zu suchen. Wo aber müssen wir dann die Quelle der Orientierung unserer Existenz suchen? Nach dem Sturz der von Nietzsche kritisierten repressiven Moral sind die ethische Orientierung und die Freiheit häufig als das Ergebnis einer autonomen Entscheidung des Subjekts verstanden worden. Es ist interessant zu beobachten, wie sich der Neoliberalismus und das postmoderne Denken des anything goes – die zwei Standpunkte, die sich seit dem Anfang der achtziger Jahre in der Wirtschaft und der Philosophie durchgesetzt haben – trotz des Kontrasts zwischen ihnen auf einen sehr ähnlichen Freiheitsbegriff beziehen, der für sich das Recht zur unbegrenzten Erweiterung der eigenen Potentialität beansprucht und jede Grenze – solange sie kein bloß formaler Respekt vor der Freiheit des Anderen ist – als eine nutzlose Störung betrachtet, so dass sie aus einer „deregulation“ im wirtschaftlichen wie im ethischen Feld das eigene Credo machen. Dieses Modell der Freiheit und der Entwicklung – dem das entspricht, was Gilles Lipovetsky société d'hyperconsommation nannte – erweist sich immer deutlicher als unfähig, der Menschheit vor den neuen Herausforderungen im ökonomischen, sozialen, ethischen und politischen Bereich eine Orientierung zu bieten. Michel Serres hat die Hypothese aufgestellt, dass die aktuelle ökologische Krise auch die Folge einer „mentalen Verschmutzung“ sei. Um ein Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur wiederzugewinnen, schlägt Serres einen contrat naturel vor, der davon ausgeht, dass der Mensch lernen sollte, die Tugend der Zurückhaltung auszuüben, die Ausweitung der eigenen Macht innerhalb gerechter Grenzen zu halten und das Ziel der eigenen Existenz vom Besitz auf die kreative Handlung zu verschieben. Meiner Meinung nach liegt dieser mentalen oder „noologischen“ Verschmutzung ein Freiheitsbegriff zugrunde, der nach der uneingeschränkten Ausdehnung der eigenen Grenzen, nach einer Ausbreitung des eigenen Selbst sowie der eigenen Fähigkeit des Konsums strebt. Das Tragischste daran ist, dass ein in diesem Sinne freies Individuum sich als autonom glaubt, während es in Wirklichkeit heteronom ist, da die Konturen des eigenen Selbst, welche es mit Mühe und Not zu erweitern sucht, von dem, was Foucault „Technologien der Macht“ nannte, bestimmt worden sind. Um ein alternatives Entwicklungsmodell zu denken, ist es wichtig, sich eine zweite Ebene der menschlichen Freiheit vorzustellen, die sich mit der Grenze, dem Respekt vor der Natur und der Achtung gegenüber dem Anderen, d. h. mit der Realität, auseinanderzusetzen weiß. Schelling erweist sich in dieser Perspektive als ein wichtiger Vorläufer, der sich mit diesem Modell der Freiheit auseinandersetzt (vgl. Kapitel 2. 1). Die drängende Problematik der Freiheit besteht heutzutage darin, eine Form der Individuation herauszufinden, die sich alternativ zu derjenigen stellen kann, die gleichsam von der „medialen Massenzüchtung“ aufgezwungen wird. Anstatt die ganzen Energien für die Ausweitung der Grenze des eigenen Selbst einzusetzen, nimmt diese zweite Ebene des Individuationsprozesses in einem gewissen Moment kritischen Abstand von demselben und transzendiert es, um über die Selbstwiederholung hinaus eine neue Existenz zustande zu bringen. Ohne diese Übung der Selbsttranszendierung, ohne eine konstruktive Dialektik zwischen sozialer Rolle und personaler Identität, findet man keinen Zugang zu dieser zweiten Ebene der Freiheit. Welche Orientierung kann dem Menschen aber heutzutage bei diesem Unternehmen noch helfen? Ist noch ein Raum übrig geblieben, in dem das Individuum – in Abweichung vom herrschenden sozialen Modell – die eigene personale Identität aufbauen kann? Ich möchte im Folgenden vorschlagen, diesen Raum in Richtung einer nicht autoritären Orientierung zu suchen, die aus der Tiefe, aus der affektiven Sphäre, herkommt und ihren höchsten Ausdruck in der Kraft des Anderen als Vorbild und Gegenbild findet. Um die vorletzte Jahrhundertwende hat die Phänomenologie von Brentano, Husserl und Scheler gezeigt, dass der Wille und die Entscheidung des Subjekts nicht leer um sich selbst kreisen, sondern einen Kontext und eine komplexe Wertartikulation auf der affektiven Ebene voraussetzen. Das Neue an dieser Auffassung im Vergleich zu Hume liegt darin, die Frage nach der Qualität der affektiven Orientierung ausdrücklich gestellt zu haben (siehe §. 3. 6. 1; §. 3. 6. 2 und §. 3. 7. 1). Bei diesem Ansatz stehen nicht die Normen, die Imperative oder eine neue Theorie des Guten in der Mitte der Ethik, sondern das Problem des Reifens der affektiven Sphäre und das der Tiefe und Qualität des Fühlens. Das ethische Problem wird mithin zu einem Problem der Bildung, der affektiven Alphabetisierung. Gewiss, ohne Hilfe des Willens und der vernünftigen Reflexion ist keine Ethik möglich, aber das, was den Willen und die Reflexion lenkt, ist die affektive Sphäre. Den Auftakt in der affektiven Sphäre gibt darüber hinaus nicht das selbstreferentielle, in der Monade verschlossene Subjekt, sondern das positive Vorbild des Anderen. Das aktuelle, immer stärker werdende Interesse an der von Pierre Hadot und Michel Foucault gestellten Frage nach der cura sui kann nicht ausschließlich auf Heidegger zurückgeführt werden. Schon vorher tauchte das Thema auch bei Schelling und Scheler wieder auf. Es fehlt zwar die explizite Bezugnahme auf den Terminus Sorge oder den griechischen Begriff der epimèleia heautoû. Bei beiden Denkern kann man jedoch die Vorstellung einer an der Bildung der menschlichen Singularität orientierten cura sui deutlich rekonstruieren. Die ganze philosophische Anthropologie von Scheler kann als im Sinne der anthropologischen Übung verstandene cura sui neu gedacht werden. Darüber hinaus darf man nicht außer Acht lassen, dass sich Schelling und Scheler auf sehr intensive Weise mit Platon auseinandersetzen und dass es ihnen gelingt, einige cura sui betreffende Fragen originell wiederzubeleben. Nach der Verfassung des Dialogs Phaidon wird sich Platon nämlich dessen bewusst, dass die Frage nach dem guten Leben eine Frage nach der katharsis ist, die sich als Ausschaltung des eigenen Egozentrismus durch eine tèchne tês periagogês versteht (vgl. 3. 3. 9 Platon und die tèchne tês periagogês). Diese tèchne der Umkehrung, die sich als Übung der Selbsttranszendierung darstellt, steht im Mittelpunkt der Philosophie Schellings – im Begriff der Ekstase – und in derjenigen Schelers – im Begriff der Reduktion. Aus dieser Perspektive kann man eine cura sui im generativen Sinne entfalten, die ontogenetisch als Mäeutik, als Geburt der personalen Identität, gedacht wird. Bisher hat man versucht, die personale Identität vorwiegend von der Kontinuität, von dem linearen und selbstreferentiellen Prozess der Wiederherstellung des eigenen Selbst her zu bestimmen. In Wahrheit ist dies die Art und Weise, durch die sich die Identität eines Organismus konstituiert. Die personale Singularität baut die eigene Identität auf, indem sie kohärent einen Prozess der kritischen Abstandnahme von sich selbst, von den eigenen Gewohnheiten und von dem eigenen ursprünglichen Milieu vollzieht. Sie bildet sich, indem sie sich auf neue Weise zu betrachten lernt. Diese Abstandnahme von der Banalität und Langweiligkeit des eigenen Selbst ist mit einem schöpferischen Prozess des sich selbst Erweckens vergleichbar. Wach sein heißt hier sich selbst und den Anderen als Überraschung erleben. Nur so kann der Mensch wiedergeboren werden, und nur durch diese Aufgabe wird es möglich, der cura sui eine ethische Bestimmung zu verleihen.
Person und Selbsttranszendenz. Ekstase und Epoché des Ego als Individuationsprozesse bei Schelling und Scheler
CUSINATO, Guido
2012-01-01
Abstract
Im Zentrum dieser Arbeit steht die Frage nach der personalen Identität und der Orientierung in unserer flüchtigen postmodernen Zeit. Nach dem Expressivist Turn, wie Charles Taylor darlegt, hat es keinen Sinn mehr, in der Idee eines transzendenten Guten oder eines Wertes an sich einen Bezugspunkt zu suchen. Wo aber müssen wir dann die Quelle der Orientierung unserer Existenz suchen? Nach dem Sturz der von Nietzsche kritisierten repressiven Moral sind die ethische Orientierung und die Freiheit häufig als das Ergebnis einer autonomen Entscheidung des Subjekts verstanden worden. Es ist interessant zu beobachten, wie sich der Neoliberalismus und das postmoderne Denken des anything goes – die zwei Standpunkte, die sich seit dem Anfang der achtziger Jahre in der Wirtschaft und der Philosophie durchgesetzt haben – trotz des Kontrasts zwischen ihnen auf einen sehr ähnlichen Freiheitsbegriff beziehen, der für sich das Recht zur unbegrenzten Erweiterung der eigenen Potentialität beansprucht und jede Grenze – solange sie kein bloß formaler Respekt vor der Freiheit des Anderen ist – als eine nutzlose Störung betrachtet, so dass sie aus einer „deregulation“ im wirtschaftlichen wie im ethischen Feld das eigene Credo machen. Dieses Modell der Freiheit und der Entwicklung – dem das entspricht, was Gilles Lipovetsky société d'hyperconsommation nannte – erweist sich immer deutlicher als unfähig, der Menschheit vor den neuen Herausforderungen im ökonomischen, sozialen, ethischen und politischen Bereich eine Orientierung zu bieten. Michel Serres hat die Hypothese aufgestellt, dass die aktuelle ökologische Krise auch die Folge einer „mentalen Verschmutzung“ sei. Um ein Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur wiederzugewinnen, schlägt Serres einen contrat naturel vor, der davon ausgeht, dass der Mensch lernen sollte, die Tugend der Zurückhaltung auszuüben, die Ausweitung der eigenen Macht innerhalb gerechter Grenzen zu halten und das Ziel der eigenen Existenz vom Besitz auf die kreative Handlung zu verschieben. Meiner Meinung nach liegt dieser mentalen oder „noologischen“ Verschmutzung ein Freiheitsbegriff zugrunde, der nach der uneingeschränkten Ausdehnung der eigenen Grenzen, nach einer Ausbreitung des eigenen Selbst sowie der eigenen Fähigkeit des Konsums strebt. Das Tragischste daran ist, dass ein in diesem Sinne freies Individuum sich als autonom glaubt, während es in Wirklichkeit heteronom ist, da die Konturen des eigenen Selbst, welche es mit Mühe und Not zu erweitern sucht, von dem, was Foucault „Technologien der Macht“ nannte, bestimmt worden sind. Um ein alternatives Entwicklungsmodell zu denken, ist es wichtig, sich eine zweite Ebene der menschlichen Freiheit vorzustellen, die sich mit der Grenze, dem Respekt vor der Natur und der Achtung gegenüber dem Anderen, d. h. mit der Realität, auseinanderzusetzen weiß. Schelling erweist sich in dieser Perspektive als ein wichtiger Vorläufer, der sich mit diesem Modell der Freiheit auseinandersetzt (vgl. Kapitel 2. 1). Die drängende Problematik der Freiheit besteht heutzutage darin, eine Form der Individuation herauszufinden, die sich alternativ zu derjenigen stellen kann, die gleichsam von der „medialen Massenzüchtung“ aufgezwungen wird. Anstatt die ganzen Energien für die Ausweitung der Grenze des eigenen Selbst einzusetzen, nimmt diese zweite Ebene des Individuationsprozesses in einem gewissen Moment kritischen Abstand von demselben und transzendiert es, um über die Selbstwiederholung hinaus eine neue Existenz zustande zu bringen. Ohne diese Übung der Selbsttranszendierung, ohne eine konstruktive Dialektik zwischen sozialer Rolle und personaler Identität, findet man keinen Zugang zu dieser zweiten Ebene der Freiheit. Welche Orientierung kann dem Menschen aber heutzutage bei diesem Unternehmen noch helfen? Ist noch ein Raum übrig geblieben, in dem das Individuum – in Abweichung vom herrschenden sozialen Modell – die eigene personale Identität aufbauen kann? Ich möchte im Folgenden vorschlagen, diesen Raum in Richtung einer nicht autoritären Orientierung zu suchen, die aus der Tiefe, aus der affektiven Sphäre, herkommt und ihren höchsten Ausdruck in der Kraft des Anderen als Vorbild und Gegenbild findet. Um die vorletzte Jahrhundertwende hat die Phänomenologie von Brentano, Husserl und Scheler gezeigt, dass der Wille und die Entscheidung des Subjekts nicht leer um sich selbst kreisen, sondern einen Kontext und eine komplexe Wertartikulation auf der affektiven Ebene voraussetzen. Das Neue an dieser Auffassung im Vergleich zu Hume liegt darin, die Frage nach der Qualität der affektiven Orientierung ausdrücklich gestellt zu haben (siehe §. 3. 6. 1; §. 3. 6. 2 und §. 3. 7. 1). Bei diesem Ansatz stehen nicht die Normen, die Imperative oder eine neue Theorie des Guten in der Mitte der Ethik, sondern das Problem des Reifens der affektiven Sphäre und das der Tiefe und Qualität des Fühlens. Das ethische Problem wird mithin zu einem Problem der Bildung, der affektiven Alphabetisierung. Gewiss, ohne Hilfe des Willens und der vernünftigen Reflexion ist keine Ethik möglich, aber das, was den Willen und die Reflexion lenkt, ist die affektive Sphäre. Den Auftakt in der affektiven Sphäre gibt darüber hinaus nicht das selbstreferentielle, in der Monade verschlossene Subjekt, sondern das positive Vorbild des Anderen. Das aktuelle, immer stärker werdende Interesse an der von Pierre Hadot und Michel Foucault gestellten Frage nach der cura sui kann nicht ausschließlich auf Heidegger zurückgeführt werden. Schon vorher tauchte das Thema auch bei Schelling und Scheler wieder auf. Es fehlt zwar die explizite Bezugnahme auf den Terminus Sorge oder den griechischen Begriff der epimèleia heautoû. Bei beiden Denkern kann man jedoch die Vorstellung einer an der Bildung der menschlichen Singularität orientierten cura sui deutlich rekonstruieren. Die ganze philosophische Anthropologie von Scheler kann als im Sinne der anthropologischen Übung verstandene cura sui neu gedacht werden. Darüber hinaus darf man nicht außer Acht lassen, dass sich Schelling und Scheler auf sehr intensive Weise mit Platon auseinandersetzen und dass es ihnen gelingt, einige cura sui betreffende Fragen originell wiederzubeleben. Nach der Verfassung des Dialogs Phaidon wird sich Platon nämlich dessen bewusst, dass die Frage nach dem guten Leben eine Frage nach der katharsis ist, die sich als Ausschaltung des eigenen Egozentrismus durch eine tèchne tês periagogês versteht (vgl. 3. 3. 9 Platon und die tèchne tês periagogês). Diese tèchne der Umkehrung, die sich als Übung der Selbsttranszendierung darstellt, steht im Mittelpunkt der Philosophie Schellings – im Begriff der Ekstase – und in derjenigen Schelers – im Begriff der Reduktion. Aus dieser Perspektive kann man eine cura sui im generativen Sinne entfalten, die ontogenetisch als Mäeutik, als Geburt der personalen Identität, gedacht wird. Bisher hat man versucht, die personale Identität vorwiegend von der Kontinuität, von dem linearen und selbstreferentiellen Prozess der Wiederherstellung des eigenen Selbst her zu bestimmen. In Wahrheit ist dies die Art und Weise, durch die sich die Identität eines Organismus konstituiert. Die personale Singularität baut die eigene Identität auf, indem sie kohärent einen Prozess der kritischen Abstandnahme von sich selbst, von den eigenen Gewohnheiten und von dem eigenen ursprünglichen Milieu vollzieht. Sie bildet sich, indem sie sich auf neue Weise zu betrachten lernt. Diese Abstandnahme von der Banalität und Langweiligkeit des eigenen Selbst ist mit einem schöpferischen Prozess des sich selbst Erweckens vergleichbar. Wach sein heißt hier sich selbst und den Anderen als Überraschung erleben. Nur so kann der Mensch wiedergeboren werden, und nur durch diese Aufgabe wird es möglich, der cura sui eine ethische Bestimmung zu verleihen.File | Dimensione | Formato | |
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